Die Geschichte der Raupe

 
 

… von Zufällen und Wundern

Die Blüten unserer Fenchelpflanze waren von so unbekannter Schönheit, dass ich sie noch vor unseren Ferien, in einer kleinen Vase am Fenster, dem Lauf der Dinge überließ. Für den eigentlich vorgesehenen, weniger ruhmvollen Ort, an dem sie sehr bald zu Erde geworden wären, waren sie mir einfach viel zu Schade! Dass dies eine glückliche Befolgung meiner inneren Stimme gewesen war, sollte sich zeigen, als wir zurückkehrten.

 

“Die zarten Fenchelblätter hatten die ganze Zeit über ein kleines Geheimnis gut bewahrt. ”

Natürlich waren die Dolden die ganze Zeit über nicht frisch geblieben. So hingen sie schlaff über den Rand der Vase in Erinnerung an blühende Tage. Kurzerhand wollte ich sie nun doch ihrem natürlichen Kreislauf überlassen … doch was waren da allüberall auf der Fensterbank für winzige Erdkügelchen verteilt?! Wie froh war ich in diesem Moment, dass meine Hand all die Stängel und Blätter noch nicht zu einem kleinen Häufchen gepresst hatte … denn wer saß hier, ganz still und ungerührt in allerbester Marine der Verbergung?! Eine wunderschöne, wohlgenährte Raupe des Schwalbenschwanzes. Und wie umsichtig von ihr; sie hatte sogar ihren Raupen Freund eingeladen, sie in ihr schützendes, neues Zuhause zu begleiten. Als ich die beiden Gäste in ihren schwarz-grün gestreiften Westen mit den orangefarbenen Knöpfen ganz unbekümmert auf unserer Fensterbank sah, dacht ich keinen Moment daran, sie einfach wieder in den Garten zu tragen, wo bereits eine Vielzahl hungriger Mäuler auf sie warteten. Nein, sie standen nun unter meinem Schutz und sollten so lange wie möglich eine friedvolle Entwicklung durchleben können.

Ein wundersames Schauspiel der Natur

Der Schwalbenschwanz will bald schlüpfen. Schon schimmern seine Flügel durch die zarte Puppenhülle. Von Zeit zu Zeit zappelt der kleine Schmetterling in seiner immer enger werdenden Haut.

 

Mein Staunen und Innehalten war natürlich nicht unbemerkt geblieben.  Da spürte ich schon, wie sich eine kleine, feuchte Hand in meine Große schob. Neugierige Augen richteten sich mit einer steten Ungeduld auf mich. Auch ohne die Worte ausgesprochen zu hören, konnte ich die dringliche Frage beantworten. So beugte ich mich mit der kleinen Raupe auf meiner Hand nach unten: „Schau mal, Jakob, welch wundersamer Gast sich bei uns ein neues Zuhause gesucht hat.“ „Ist die schön, Mama!“ sprudelte es aus dem Kindermund. Gefolgt von einem zarten Kichern, als die Raupe ihren Weg auf Jakobs Hand fortsetzte. Das zarte Band der Freundschaft war geknüpft und wurde gefestigt, als Jakob seine Raupe auf Beatrix taufte.

Von diesem Tag an galt Jakobs wichtigstes Augenmerk seinen beiden Freunden. Mit einer unglaublichen Ausdauer beobachtete er und versorgte sie fürsorglich. Da ich bereits vom Weg wusste, den die beiden Raupen, in Anbetracht ihrer bereits erheblichen Leibesfülle, bald beschreiten würden, begannen Jakob und ich ein kleines Häuschen zu bauen. Und irgendwann war es dann so weit. Die Anzeichen der bevorstehenden Wandlung deuteten wir richtig. So lenkten wir den Weg der Raupe behutsam an den Ort, den Jakob so liebevoll für sie gerichtet hatte, damit er ihr Ruhe und Schutz für ein gutes Gelingen geben möge.

 

Für den kleinen Schmetterling muss sich die Zeit ins schier endlose dehnen -

Viele Stunden muss er sich gedulden, bis seine Flügel stark genug sind, um ihn hoch in die Luft zu tragen. In dieser Zeit knüpft der Schwalbenschwanz so manch ungewöhnliche Freundschaft.

 

Nun stand die zäh fließende Zeit der, nach Außen hin so langweilig anmutenden, inneren Wandlung an. Ich konnte sie mit Geduld ertragen. Doch für ein Kind, welches diesem Wunder noch nie gegenüber stand, war es eine sagenhafte Zerreißprobe. Immer und immer wieder hörte ich kleine, schnelle Schritte, sah ein Huschen aus dem Augenwinkel. Wie viele Male es wohl gewesen waren, in denen ich Jakob beobachtete wie er Erwartungsvoll vor seinen nun so reglosen Raupen in ihrer Puppenhülle stand, ihnen gut zuredend und sie um Eile bittend: „Beatrix, wann bist du fertig? Wann kommst du endlich raus aus deiner Hülle?“

Wie es mit allem ist, was reif ist, geboren zu werden, so verließ auch Beatrix irgendwann rasch und selbstbewusst ihre alt Haut. Dieses Schauspiel nahm uns voll und ganz ein, hielt uns fest in einer gebannten Stille, die alles erzählte, was in den vergangenen Wochen im Verborgenen geschehen war. Große Kinderaugen wurden Zeugen, wie sich der Schmetterling Stück für Stück entfaltete. Aus schwachen, knittrigen Flügeln wurden farbenprächtige Schwingen eines wundervollen Schwalbenschwanzes, der schon bald bereit sein würde, seine neue Freiheit zu erlangen.

 
 

Voller Hingabe betrachtete Jakob seine Beatrix. Seine Frage legte mir ein wenig Trauer ums Herz: „Mama, können wir Beatrix nun für immer bei uns behalten?“

Die Antwort, die ehrliche Antwort, wollte ich eigentlich gar nicht aussprechen, war ich mir doch ihrer Folgen bewusst: „Nein, Jakob, das dürfen wir nicht! Wir müssen Beatrix fliegen lassen. Sie will die Welt sehen, an duftenden Blüten verweilen und sich vom Wind tragen lassen.“

Für diejenigen, die ein großes Herz haben, möchte ich sagen: „Beatrix hat mir zugehört!“ Und sie dankte mir meine Entscheidung mit ihrer Hilfe ein Kinderherz zu trösten. Der kleine Schmetterling wusste ganz genau, was zu tun war, während es mir wie ein kleines Wunder, ein ganz besonderes Geschenk erschien. Beatrix flog zu Jakob. Sanft landete sie auf seiner Wange und krabbelte mit zarten Beinchen auf sein Ohr. Jakob hielt ganz still. War vorsichtig mit seiner Freundin. Eine ganze Stunde lang verbrachten die Beiden so, auf einem weichen Kissen gebettet. Dieses ungewöhnliche Paar - ein Kind und ein Schmetterling - waren von einem rührenden Zauber umgeben, der nichts Störendes an die Beiden heran ließ.

Als stiller Beobachter durfte ich an diesem Glück teilhaben. In den Augen von Jakob konnte ich die Geschichten ablesen, die der kleine Schmetterling ihm zu raunte. Sie handelten von Mut und Vertrauen, von Hoffnung und Wandlung. Und dann, als beide so weit waren, Beatrix und Jakob, lösten sie sich, Der Schmetterling erhob sich in die Luft, flog nach draußen. „Sieh doch Mama, sieh! Beatrix fliegt jetzt zur Sonne. Vielleicht bringt sie ja eines Tages ihre Raupenkinder zu mir!“ „Ja, Jakob!“ antwortete ich „Mit Sicherheit!“

 
 

Und so standen wir noch eine ganze Weile am Fenster, dort wo diese wundersame Reise begonnen hatte und spürten dem Zauber dieser Begegnung nach, bis der Schmetterling nur noch ein kleiner Punkt am strahlend blauen Sommerhimmel war.

… und ich darf einen kleinen Ausblick geben: Beatrix hat ihr Versprechen gehalten und tatsächlich ihre Raupenkinder zu uns gebracht. Diese ruhen nun in einem kleinen Häuschen auf unserem Balkon und erwarten den Frühling - bis sie sich aus ihrer alten Haut befreien können, um als prächtiger Schmetterling die ersten Blüten zu begrüßen.

 
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